Burnout ist keine Krankheit: Ein systemisches Problem, keine individuelle Schwäche
Der Begriff „Burnout“ ist in aller Munde. Er beschreibt einen Zustand extremer emotionaler, körperlicher und geistiger Erschöpfung. Doch die Art und Weise, wie wir darüber sprechen, führt oft in die Irre. Denn Burnout ist in seiner Essenz keine individuelle „Krankheit“ im klassischen Sinne, sondern ein Symptom. Es ist das Signal eines Körpers, der auf ein krankes System reagiert – eine Reaktion auf eine Arbeitswelt, die Raubbau an der menschlichen Substanz betreibt.
Das Narrativ der Individualschuld
Die gängige Erzählung legt die Verantwortung oft beim Einzelnen ab: „Du musst resilienter sein“, „Du musst besser delegieren“, „Du musst mehr Yoga machen“. Dieses Coaching-Narrativ suggeriert, dass Burnout die Folge von persönlichem Versagen oder mangelnder Anpassungsfähigkeit ist.
Das ist gefährlich, denn es blendet die strukturellen Ursachen völlig aus:
- Ständiger Leistungsdruck: Die Kultur der „ständigen Erreichbarkeit“ und die Erwartungshaltung, immer 150 Prozent zu geben.
- Fehlende Ressourcen: Zu wenig Personal, unrealistische Deadlines und mangelnde Wertschätzung von oben.
- Kontrollverlust: Das Gefühl, keine Kontrolle mehr über die eigene Arbeit, Zeit und das eigene Leben zu haben.
Wenn das Boot leck ist, ist nicht der Schwimmer schuld, weil er erschöpft ist. Das Boot ist schuld.
Die systemische Perspektive: Symptom statt Ursache
Aus einer systemischen Sicht ist der „Patient“ nicht die einzelne Person, sondern das gesamte Umfeld – das Unternehmen, die Branche, letztlich die gesamte moderne Leistungsgesellschaft.
Burnout ist ein Warnsignal. Der Körper zieht die Notbremse, weil die Anforderungen des Systems seine Kapazitäten dauerhaft übersteigen. Es ist eine gesunde Reaktion auf eine ungesunde Umgebung.
Würden wir Burnout als Krankheit klassifizieren, könnten wir uns mit einer individuellen Therapie zufriedengeben. Doch damit würden wir nur an den Symptomen herumdoktern. Die Person wird „repariert“ und zurück in dasselbe toxische System geschickt, das sie ursprünglich krank gemacht hat. Der nächste Burnout ist vorprogrammiert oder der nächste Kollege gerät in die Mühle.
Was wir stattdessen tun müssen
Wir müssen den Fokus verschieben – von der individuellen Resilienz zur organisationalen Verantwortung.
- Arbeitskultur überdenken: Es braucht eine ehrliche Debatte über Arbeitszeiten, digitale Entgiftung und die Definition von „Erfolg“.
- Strukturen anpassen: Unternehmen müssen für adäquate Ressourcen, realistische Zielsetzungen und eine Kultur der Wertschätzung sorgen.
- Psychische Sicherheit schaffen: Mitarbeitende müssen das Gefühl haben, offen über Überlastung sprechen zu können, ohne Nachteile befürchten zu müssen.
Burnout ist keine persönliche Schwäche. Es ist ein lauter Schrei des Systems nach Veränderung. Erkennen wir dies an, können wir endlich beginnen, die wahren Ursachen zu bekämpfen, anstatt nur die Opfer zu behandeln.